Aus Gießener Allgemeinen vom 01.04.1982 geschrieben von Siggi Richter
Vom Abschied einer Mannschaft und vom Ende einer Epoche
TISCHTENNIS:
Hochzeit und Fall der Bundesliga-Damen des Gießener SV

Zehn Jahre umfassendes Kapitel mit Anstand zu Ende geschrieben
Spielerinnen auf dem Trip, Verein vor offenen Fragen


(rt) Schon ein Hauch Nostalgie war zu spüren. Erinnerung an Altes, Schönes, längst Vergangenes, für einen flüchtigen Augenblick auferstanden. Doppelte Abschiedsvorstellung des GSV aus der TT-Bundesliga Damen. Abschied von einer Mannschaft, von einer Epoche, die am Sonntag in der Turnhalle der Grundschule Gießen West zu Ende ging. Nichts Sensationelles lag in der Luft, nichts Dramatisches. Abgeschriebenes abhaken, den Schlußpunkt setzen, nichts mehr.
Der Vorhang fiel lautlos. Zehn Jahre hatte er ein Stück freigegeben, das kein Komödiant verfaßt haben konnte. Eher ein Scharlatan. ein Tragödiendichter mit fatalem Hang für immer wiederkehrende retardierende Momente. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Zeit zum Aufatmen war nur kurz. Für manchen reichte es nur zum Stoßseufzer. Doch es gab auch Höhepunkte. Namen wie Christa Federhardt-Rühl, Britta Heilmann, Heidrun Röhmig-Flick, Bärbel Zips, Gerlinde Glatzer, Gertrud Potocnik. Gisela Jakob, Karen Senior, Ulla Licher, Heike Kohl, Miriam Jupa, Angelika Schreiber und Evelin Ogroske prägten diese Dekade. Im positiven Sinn für die Mannschaft allerdings nur dreimal. Beim Sprung in die zweigleisige und bei der Qualifikation zur eingleisigen Bundesliga vor zehn Jahren. Mit dem vierten bzw. fünften Rang in der höchsten Spielklasse, als man zwei Jahre lang einmal tatsächlich ausgeglichen besetzt war.
Im übrigen hieß es, alles zu geben. Den Propheten zu trotzen, die die Gießenerinnen in mindestens sieben Spielzeiten von vornherein abschrieben. Ein fast aussichtsloser Kampf der dann aber wie durch ein Wunder immer wieder erfolgreich bestanden wurde. In den meisten Jahren hieß dieses Wunder Gerlinde Glatzer. Und nach jeder Saison Nachdenken. Suchen. hoffen. Doch die Pausen wurden nicht genutzt. Wenigstens nicht erfolgreich. Entscheidende Verstärkungen blieben aus. Zumindest nachdem die Irin Karen Senior Gießen den Rücken gekehrt hatte.
Während alle anderen Klubs im Oberhaus sich ein Management zulegten, nach Spitzenkräften internationalen Formats Ausschau hielten, leistungsorientierte Bezahlung ihrer Akteure einführten, blieb der GSV ein lupenreiner Amateurverein. »Mit nicht einmal halbprofessioneller Denkweise«, stellt man nun in der Mannschaft fest, nachdem intensiverer Kontakt zu anderen Spitzenklubs entstanden ist, so daß sich die Gießenerinnen ein vergleichendes Urteil erlauben können.

Ob personelle Betreueraltenativen fehlten, oder die Finanzen. oder der Wille, sie im spielpersonellen Bereich einzusetzen. Oder . . . Verpaßte Gelegenheiten. Vor allem, als die FTG Frankfurt noch keine Große im nationalem Tischtennis darstellte, das Einzugsgebiet dem GSV noch allein zur Verfügung stand. Fest steh, daß kein Bundesliga-Team im deutschen Tischtennis so lange auf sich selbst gestellt war, so wenig Impulse und Unterstützung »von außen« erfuhr. »Von außen«, .und das ist wohl das Tragischste, heißt hier, sogar vom eigenen Verein. Wenige, vor allem Nina Heß, haben sich voll eingesetzt, nicht immer an einem Strang gezogen, den nötigen Horizont besessen. Doch fast im Alleingang und mit gebundenen Händen kann man einen Bundesligaverein nicht verwalten, nicht führen, erst recht nicht aufbauen, wenn die Marktlücken geschlossen sind und nichts mehr von selbst geht. Die Selbständigkeit, die der Akademikerinnen-Truppe auf der anderen Seite zum Teil auch angenehm war, erwies sich schließlich als Bumerang.

So blieb dem Verein meist eine Mannschaft, die mindestens eine, wenn nicht gar zwei Nicht-Punktesammlerinnen mitschleppen mußte. Eine halbe Mannschaft. 0:4 als Abschreibung Teil eins. Und da die Gegner oft mit einer unschlagbaren Akteurin zumindest europäischer Spitzenklasse antraten, erhöhte sich das Defizit. 0:7 Punkte von Beginn an zu verkraften, ist aber nicht nur ein rechnerisches Problem. Kein Einzel mehr verlieren zu dürfen, hieß jahrelang die Aufgabe für die Leistungsträger. Vor allem Gerlinde Glatzer und Gertrud Potocnik können ein Leid-Lied davon singen. Haben sich dabei, selbstverleugnerisch, verbraucht. Sich immer wieder gegen das unvermeidliche Abstiegsschicksal zu sperren, die Kameradinnen aufzurüsten, von denen keine Unterstützung kommen konnte, kostete innere Substanz. Zerschliß auf Dauer.
Auch die Einsamkeit machte wohl mürbe. Die Einsamkeit der aus ganz Hessen zusammengewürfelten Truppe im Verein. Und die in der Halle. Ein Publikum, das nicht kam. Spiele unter Ausschluß der Öffentlichkeit, die wenigen fremden Interessenten konnte man an einer Hand abzählen. Familienatmosphäre, nicht im positiven Sinn. Denn nicht einmal die »TT-Familie« stand zu den Gießenerinnen. Und dann die Einsamkeit in der Bundesliga. Weiter für'n Appel und 'n Ei kämpfen, während andere sich Extrakonten einrichten. (Kenner der Szene haben ausgerechnet, daß Gerlinde Glatzer allein in den letzten beiden Jahren bei anderen Bundesligavereinen 20 000 DM verdient hätte, in Gießen aber ab und zu mit einem Essen »abgespeist« wurde.).
Aber es ist nicht nur in Gießen nicht gelungen, die Ketten des Ping-Pong zu sprengen, durch mehr Öffentlichkeit auch mehr finanzielle Möglichkeiten zu eröffnen. Tischtennis eine Randsportart ? Die Zuschauerzahlern scheinen dies zu beweisen. Selbst vermeintliche TT-Hochburgen bleiben im Vergleich zu anderen Sportarten tiefste Provinz. Das Denken entspricht dem, erst recht in der Provinz. Folge wie Ursache, lieber klein, eher mein. Nationale oder gar internationale Orientierung paßt da nicht hinein. Die Freude am Untergang ist schöner. Man hat es ja immer gewußt.

Die Gießenerinnen, die das Kapitel mit Anstand zu Ende geschrieben haben, sind auf dem Trip«. Weg von Gießen, heißt die Devise. Viel mehr ist nicht klar. Gerlinde Glatzer die Kasselanerin, ohne die eine Bundesliga-Zugehörigkeit schon seit Jahren undenkbar wäre, gehört weiter zu den besten sechs bis zehn deutschen Spielerinnen und wird in der höchsten Klasse verbleiben. Der deutsche Rekordmeister DSC Kaiserberg, der TTV Rinteln und die FTG Frankfurt sind im Gespräch. Gertrud Potocnik, die ehemalige zweifache deutsche Jugendmeisterin aus Salmünster, trägt sich mit Rücktrittsabsichten, wäre aber sicher gut beraten, in einem jungen, hoffnungsvollen Team weiterzumachen. Ihre Erfahrung weiterzureichen, auch für sich einen neuen Anlauf zu wagen. Gisela Jakob, die Sulzbacherin, zieht es verständlicherweise in den Frankfurter Raum zurück und wird sicher bei der FTG landen. Und auch die Hersfelderin Evelin Ogroske schließlich verläßt Gießen Richtung Heimat.
Die Mannschaft löst sich auf. Nicht der GSV. Doch er hat zu verkraften, daß mit den Bundesliga-Damen ein Aushängeschild verschwindet. Und daß er selbst als Aushängeschild des heimischen Tischtennissports in Frage gestellt ist. Denn auch mit den übrigen Teams ist derzeit kein Staat zu machen. Der Fall aus der Zweit- in die Drittklassigkeit droht. ihn zu verhindern, wäre sicher nicht zuletzt im Interesse der Spielerinnen, die das Kapitel Spitzensport in Gießen begründet und abgeschlossen haben. Verfällt es der Geschichte, bleibt nur nostalgische Erinnerung? Oder erwachsen aus ihm neue Impulse, die für die Zukunft hoffen lassen? Doch wer auch immer, wann auch immer, wo auch immer sich wieder in Bundesliga-Höhen emporschwingt, wird lernen müssen, mit den Wölfen zu heulen.


Zurück Vorwärts Start Erstellt am 01.01.2001 - Letzte Änderung: 01.01.2001