Gießener Allgemeine vom 23. April 1977

Das Porträt der Woche
Karen Senior: Tischtennis-Bundesligaspielerin des Gießener SV

(rt) Zwei Jahre lang hatte der GSV fast bis zum letzten Ballwechsel um sein Saisonziel, die Qualifikation zur eingleisigen TT-Bundesliga und den Erhalt der höchsten deutschen Spielklasse, bangen müssen. Mit praktisch nur, drei Punktesammlerinnen, von denen eine oder gar zwei mitunter zusätzlich ausfielen, war man den Anforderungen schließlich gerade noch gewachsen gewesen. Doch dann flatterte den Gießenerinnen eine Schwalbe aus Irland ins Nest, die Zwar allein noch keinen GSV-Sommer machte, aber die verborgenen Qualitäten der Gießenerinnen endlich richtig zur Entfaltung kommen lassen konnte: Karen Senior war denn auch die Hauptursache, daß es mit dem GSV nun schlagartig aufwärts ging, das Prädikat der ausgeglichenen Besetzung und Schlagzeilen wie "Grand mit vieren" die Runde machten und sogar" ganz realistisch von vorderen Bundesliga-Plätzen "geträumt" wurde und wird.

Kein Wunder, daß sich die am 10. 8.1956 in Bangor geborene, in Belfast und Lisburn aufgewachsene, nur 1,63 Meter ("Five feet, four inches") große Nordirin schnell in die Herzen des Gießener Publikums spielte. Auf der Suche nach optimalen Trainings- und Spielbedingungen hatte Karen Senior, für die Tischtennis nicht nur Hobby, sondern berufsmäßiger Lebensinhalt Nummer eins sein sollte, durch die Vermittlung einer Sportfirma Station in Gießen gemacht. Der irische Anzug war ihr schon seit langem "zu eng" geworden, doch erst nach dem Abitur und einigen Gastaufenthalten in Deutschland fand Karen Senior den Absprung. Mit zwölf Jahren hatte die aus einer TT-Familie stammende Nordirin (Vater, Mutter und Bruder spielen aktiv) begonnen, war ein Jahr später einem Lisburner Klub beigetreten und vom Vater, einem irischen Nationalspieler, trainiert worden. Bereits mit 14 Jahren gehörte Karen Senior zu den besten Damen Irlands und erhielt - gegen China - ihren ersten Ruf in die Nationalmannschaft. Nunmehr blickt die 21jährige bereite auf etwa 80 Einsätze in dar Landesauswahl der Damen und 20 Spiele im irischen Nationalteam der Jugend zurück. Der schlichtweg kometenhafte Aufstieg der technisch sehr vielseitigen Irin ("habe immer versucht, alles zu können und mich erst später zu spezialisieren") brachte weitere internationale Starts mit sich: bei den Jugendeuropameisterschaften in Ostende, Athen und Göppingen, bei den Europameisterschaften in Rotterdam und Prag und bei den Welttitelkämpfen in Sarajevo und Birmingham. Doch ihrem sportlichen Ziel, zur europäischen Spitze vorzustoßen, kam Karen Senior nur sehr langsam näher, vor allem weil sie der zweitklassigen Nationalmannschaft Irlands (Tischtennis-politisch gehört Nordirland zur Inselrepublik) nur drittklassige Gegner vorgesetzt bekam und die Menge der Einsätze die mangelnde Qualität nicht ausbügeln konnte. Zum "Selfmademan" gezwungen, "setzte" sie sich im August 1978 nach Deutschland ab, wo sie inzwischen mit Ursula Hirschmüller, der WMoViertelfinalistin von Birmingham, Kirsten Krüger, Monika Block-Kneip und Monika Stork eine ganze Reihe deutscher Spitzenspielerinnen auf ihrer "Abschußliste" führt und wo sie mit dem sechsten Platz beim Bundesranglistenturnier bestätigte, daß sie auch in deutschen Landen mit guten Erfolgsaussichten zum Tisch gehen kann. Angesichts einer dreijährgen "Sperre" auf internationaler Ebene, aber wohl auch ein wenig aus Heimweh hat die nordirische Nationalspielerin, die gern zum A-/B-Kader der Bundesrepublik gehören würde, die endgültige sportliche Trennung von ihrer Heimat allerdings noch nicht gewagt.
"Ich weiß nicht, was ich machen soll", gibt sich Karen Senior denn auch recht ratlos, obwohl sie sich selbst als Realist, optimistisch und wenig sensibel ("ein bißchen träumen ist aber auch sehr schön") bezeichnet.
Von der Situation des im Schatten der Herren dahinvegetierenden Damen-Tischtennis in Deutschland enttäuscht, deutet die Neu-Gießenerin, auf ihre Zukunftspläne angesprochen, aber an, daß ihr hessisches Gastspiel schon nach dieser Saison sein Ende finden könnte. Frankreich, Holland, England ("wo mein Freund lebt") und Norddeutschland ("der Heimat ein Stück näher") fallen in diesem Zusammenhang. Seit dieser Woche ist sie allerdings Studentin der Anglistik an der Gießener Universität und offensichtlich froh und stolz, die damit verbundene Deutschprüfung erfolgreich bestanden zu haben. Doch Tischtennis soll weiter im Vordergrund stehen und erst ein späteres Studium in Nordirland zu einem "zivilen" Beruf ("vielleicht Lehrerin") führen. Vorerst wird die Suche nach noch besseren Trainingsbedingungen ("unsere Gießener Mannschaft wohnt ja so verstreut") und nach einem Trainer, der ihr technisch und bei der Realisierung ihrer fast unbegrenzten taktischen Möglichkeiten ("ich spiele noch zu weich und vielseitig, manchmal gibt es sicher taktisch bessere Schläge") weiterhilft, entscheidendes Kriterium dafür sein, wohin die sympathische Nordirin, die im übrigen Musik, Lesen und vor allem Tanzen als ihre Hobbys bezeichnet und die außer Englisch und Deutsch auch noch Französisch spricht, ihre nächsten Schritte wendet. So ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß der GSV und das Gießener Publikum bald wieder Abschied nehmen müssen von der kleinen Irin mit dem großen Kämpferherzen.
Heute gegen Kaiserberg wird sie allerdings noch einmal (und noch nicht zum letzten Male) das Trikot des heimischen Bundesliga Klubs ("ich habe schlechter gespielt als erhofft, weil mich einfach meine Situation nicht zufriedenstellte") überstreifen. Sicher wird der GSV auch versuchen, daß der Aufenthalt von Karen Senior für die Irin und ihn selbst nicht ein deutsches Wintermärchen bleibt, sondern in der nächsten Saison meine Fortsetzung findet, Leider muß man bezweifeln, daß ihm dies gelingt.


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